Aus: Ausgabe vom 20.10.2017, Seite 6 / Ausland
Ein Hauch von Maidan
Ukrainische Rechte gespalten: Proteste gegen Staatschef Poroschenko in Kiew
Von Reinhard Lauterbach
Forderung nach Amtsenthebung Präsident Poroschenkos am Dienstag vor dem Parlament in Kiew
Foto: Efrem Lukatsky/AP Photo
Seit Dienstag weht wieder ein Hauch von Maidan durch die ukrainische Hauptstadt. Vor dem Kiewer Parlament steht ein Zeltstädtchen mit Barrikaden und Feldküchen, Demonstranten in Tarnanzügen fordern vorgezogene Neuwahlen und den Rücktritt von Präsident Petro Poroschenko. Die Polizei versuchte am Mittwoch erfolglos, das Camp zu räumen, und zog sich unter Verlust von 20 Schilden zurück. Seitdem verhandelt sie mit den Protestierenden über eine Rückgabe des »Staatseigentums«. Die lachen sich ins Fäustchen und demonstrieren weiter.
Unübersehbar ist aber, dass der Krawall für das Fernsehen inszeniert ist. Hinter der Aktion stehen die beiden wichtigsten Konkurrenten um die Nachfolge Poroschenkos: Julia Timoschenko von der Vaterlandspartei, die ihre Kandidatur für 2019 schon angekündigt hat, und Micheil Saakaschwili, den Poroschenko durch den Entzug der Staatsbürgerschaft vergeblich von der politischen Szene der Ukraine zu verdrängen versucht hat. Unterstützt werden sie von der Gruppe der »Eurooptimisten«, also Leuten, die immer noch an eine Veränderung der Ukraine in Richtung EU-kompatibler Rechtsstaat glauben, sowie rechten Gruppierungen wie dem aus dem Nazibataillon »Asow« hervorgegangenen »Nationalen Korps«. Andererseits scheint sich der »Rechte Sektor«, der früher immer antioligarchische Sprüche klopfte, mit Poroschenko arrangiert zu haben. Sein langjähriger Anführer Dmitro Jarosch blieb den Protesten wegen »Krankheit« fern und postete vom Krankenbett aus, Poroschenko tauge zwar nichts, aber es gebe keine bessere Alternative zu ihm. Jeder denkbare Nachfolger sei ein »prorussisches Scheusal«.
Nach außen fordern die Demonstranten die Einführung eines speziellen Antikorruptionsgerichts mit vereinfachten Verfahrens- und Beweisregeln, die Abschaffung der Direktmandate im Parlament, die eine Domäne von politisch farblosen und der jeweiligen Staatsmacht ergebenen Abgeordneten sind, sowie die Aufhebung des Rechts auf parlamentarische Immunität. Vor den Toren des Parlaments kam es in den letzten Tagen zu einzelnen Rangeleien mit regierungsnahen Politikern; am Donnerstag berichtete das Kiewer Portal Westi, dass Abgeordnete, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, inzwischen unter Perücken und mit falschen Bärten ins Hohe Haus kämen.
Doch hinter diesem Theater verbergen sich die harten Realitäten. Seitdem im September die Sitzungsperiode wiederaufgenommen wurde, hat das Parlament eine Rentenreform beschlossen, nach der mit einem Schlag zehn Jahre mehr Beitragszahlung erforderlich sind, um ein Anrecht auf Altersgeld zu haben, und diese Grenze künftig jedes Jahr um ein weiteres Jahr erhöht wird; am Donnerstag verabschiedete eine knappe Mehrheit ergänzend eine »Reform« des staatlichen Gesundheitswesens, so dass nur noch Basisleistungen der Akutmedizin kostenlos bleiben, während alles, was darüber hinausgeht – von der Geburtshilfe bis zum Facharzt –, ganz oder teilweise vom Patienten bezahlt werden soll. Und zum Beginn der kalten Jahreszeit stehen den Leuten weitere Preissprünge bei den Heizkosten bevor. Die westlichen Geldgeber hatten die Verabschiedung dieser Gesetze schon lange angemahnt, das Kiewer Parlament hatte sie lange hinausgezögert. Nun aber mussten die Abgeordneten »liefern«.
»Geliefert« hatte das ukrainische Parlament auch schon Anfang dieses Monats, als es trotz starker Kritik der rechten Opposition die Minsker Waffenstillstandsvereinbarungen nochmals verlängerte. Das soll den Partnern im Westen signalisieren, dass sich die Ukraine ja bemühe. Gleichzeitig wurde für das heimische Publikum ein anderer Ton angeschlagen. In einem weiteren Gesetz zur »Reintegration« des Donbass wurde der Kriegszustand ausgerufen und Russland zum Aggressor erklärt.